Abschied von Dr. Reiner Zilkenat

Foto: Ingo Müller

Abschied von Dr. Reiner Zilkenat

Dr. Reiner Zilkenat (20. Mai 1950 – 26. Februar 2020). Ein Historiker und Antifaschist mit Leib und Seele ist von uns gegangen.  Nekrolog für die „BzG“ vom 19. März 2020

Am 26. Februar 2020 verstarb plötzlich und unerwartet unser Freund und Kollege Dr. Reiner Zilkenat wenige Monate vor Vollendung seines 70. Lebensjahres. Mit Reiner Zilkenat verliert der Förderkreis Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung seinen ehemaligen und langjährigen Vorsitzenden. Von 2011 bis 2018 lenkte er die Geschicke unseres Vereins, und man muss uneingeschränkt sagen: zum Guten.

Seine wissenschaftliche Kompetenz erwarb er im Westen wie im Osten des geteilten Berlins. Das erklärt sich daraus, dass er in der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins seine politische Heimat gefunden hatte. Von 1970 bis 1976 studierte er an der Freien Universität Berlin Geschichte und Politikwissenschaften. In seiner Magisterarbeit hat er sich mit dem Flottengesetz von 1898 und den Reaktionen der deutschen Sozialdemokratie beschäftigt. Gemeinsam mit Peter Brandt gab er ein „Preußen-Lesebuch“ heraus.[1]Peter Brandt/Reiner Zilkenat (Hrsg.): Preußen. Ein Lesebuch, Berlin 1981. Anlässlich der großen „Preußen-Ausstellung“ von August bis November 1981 und ihrer Präsentation in einer fünfbändigen Buchreihe arbeitete Reiner Zilkenat am dritten Band „Zur Sozialgeschichte eines Staates“ mit.[2]Preußen. Zu Sozialgeschichte eines Staates. Eine  Darstellung in Quellen.  Bearbeitet von Peter Brandt unter Mitwirkung von Thomas Hofmann und Reiner Zilkenat.  Preußen. Versuch … Continue reading1989 wurde er an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften bei ZK der SED promoviert. Sein Dissertationsthema war der Berliner Metallarbeiterstreik 1930 und die Gründung des Einheitsverbandes der Metallarbeiter Berlins.[3]Reiner Zilkenat: Der Berliner Metallarbeiterstreik 1930 und die Gründung des Einheitsverbandes der Metallarbeiter Berlins (EVMB). Berlin (DDR) 1989.Geschichte der Arbeiterbewegung einschließlich des Agierens ihrer Gegner war und blieb das bevorzugte Forschungsfeld des Historikers Zilkenat. Der Umbruch von 1989/1990 ließ ihn seine Positionen selbstkritisch überprüfen, aber nicht seine politischen und wissenschaftlichen Überzeugungen über Bord werfen. Im Laufe der Jahre hat er einen Forschungsertrag von bleibendem Wert zur Geschichte der Weimarer Republik und den Ursachen ihres Untergangs, zur Rolle ihrer rechtsextremen, rassistischen Totengräber, zum Antisemitismus und seinen verheerenden Folgen beigesteuert, häufig in polemischer Auseinandersetzung mit reaktionären Politikern und Historikern.[4]Vgl. Bruno Kuster/Reiner Zilkenat: Hitlerfaschismus geschlagen -die KPD lebt und kämpft, Berlin 1985; Reiner Zilkenat: Zur Einführung: Der Berliner Verkehrsarbeiterstreik und die politische … Continue reading Viele dieser Beiträge veröffentlichte er in der antifaschistischen Presse, sie sind auf unserer Webseite dokumentiert.[5]Siehe dazu http://www.fabgab.de/aufsaetzeundbeitraege/fabgab.html , Zugriff am 19. März 2020.Sein auf gründliches Archivstudium gestütztes Forschungsinteresse verband und verbindet sich nicht nur mit steter schriftlicher und mündlicher Popularisierung eines antifaschistischen Geschichtsbildes, sondern auch mit unmittelbarem persönlichen politischen Engagement, so zum Beispiel in der Bundes-Arbeitsgemeinschaft Antifaschismus der Partei DIE LINKE. Unermüdlich war Reiner als Referent unterwegs: Das Erinnern an die Katastrophe der jungen Demokratie von Weimar durch den Aufstieg des Nationalsozialismus war sein Hauptanliegen, sein Lebensthema. Gleichgesinnte Fachkolleginnen und Fachkollegen  brachte er zu wissenschaftlichen Konferenzen und Kolloquien zusammen. Häufig schrieb er für die „Junge Welt“ und andere linkssozialistische und marxistische Zeitungen und Zeitschriften, hielt Vorträge vor Vereinen oder bei der Seniorenakademie. Zuletzt galt seine Aktivität dem Gedenken an den Generalstreik der Arbeiterklasse gegen die Kapp-Lüttwitz-Putschisten im März 1920.

Es verdient höchsten Respekt, was Reiner Zilkenat neben seiner beruflichen Tätigkeit als Lehrer in der Erwachsenenbildung nicht nur auf dem Felde der Geschichtsforschung, sondern auch in seinen ehrenamtlichen Funktionen geleistet hat. Mit seiner am 21. Mai 2011 erfolgten Wahl zu unserem Vereinsvorsitzenden hat sich der Aktionsradius unseres Förderkreises spürbar verbreitert. Gut vernetzt, hat er weitere Kooperationspartner gewonnen, uns eine größere Öffentlichkeit erschlossen, als Herausgeber unserer „Mitteilungen“ für die Erweiterung ihres Umfangs und ihres Informationsgehaltes Sorge getragen und ergänzende selbständige Veröffentlichungen angeregt und realisiert. Besonders das Zusammenwirken mit dem Berlin-Brandenburger Bildungswerk e.V. ermöglichte die Durchführung gutbesuchter wissenschaftlicher Tagungen zu zentralen Themen beziehungsweise Jahrestagen – so zum 70. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus, zum 90. Jahrestag der deutschen Novemberrevolution und zum 70. Jahrestag der doppelten deutschen Staatsgründung. Die Erträge dieser Veranstaltungen fanden ihren Niederschlag in der von Reiner Zilkenat und Marga Voigt herausgegebenen, im Verlag unseres Vereinsfreundes Marc Johne – edition bodoni – erscheinenden Schriftenreihe Zwischen Revolution und Kapitulation. Forum Perspektiven der Geschichte.[6]Henryk Skrzypczak: Als es „ums Ganze“ ging. Gewerkschaften zwischen Revolution und Kapitulation. 1918–1933. Neuruppin 2014; Rainer Holze/Marga Voigt (Hrsg.): 1945 – Eine „Stunde Null“ in … Continue reading Die Veröffentlichung des vierten Bandes dieser Reihe, hervorgegangen aus dem Symposium „Zweimal Deutschland“ vom 4. November 2019, konnte Reiner Zilkenat nicht mehr erleben.[7]Stefan Bollinger und Reiner Zilkenat (Hrsg.): Zweimal Deutschland. Soziale Politik in zwei deutschen Staaten – Herausforderungen, Gemeinsamkeiten, getrennte Wege, Neuruppin 2020.

Nach siebenjähriger erfolgreicher Tätigkeit als Vereinsvorsitzender sah sich Reiner Zilkenat im September 2018 gezwungen, sein Amt aus gesundheitlichen Gründen niederzulegen.  Das hinderte ihn nicht, weiter  der Demokratie und dem Antifaschismus zu dienen. Der Tod hat ihn mitten aus seiner Arbeit gerissen. Mit ihm verlieren nicht nur wir einen prägenden Freund und Mitstreiter, dessen Klugheit und Kreativität wir vermissen werden.

Prof. Dr. Günter Benser                                         Dr. Holger Czitrich-Stahl

(Vorsitzender 1992-2011)                                          (Vorsitzender seit Oktober 2018)


Filmografie:

Wer waren die Putschisten und ihre Hintermänner?

Wenige Tage vor dem Ableben von Reiner Zilkenat, gab er der Koordination „Unvollendete Revolution 1918/19“ ein Interview. Dieses Interview wurde in Vorbereitung für die am 20. März 2022 stadtfindende Kundgebung: „100 Jahre Kapp-Putsch – 100 Jahre Generalstreik – Massenstreik gegen Faschismus und Militarismus“ geführt.

Unser Webadministrator, Ingo Müller filmte das Interview am 20.02.2020.

Kamera, Ton und Bearbeitung: Ingo Müller rec: ingmue1957, 20.02.2020 im Auftrag für die Koordination „Unvollendete Revolution 1918/19“


Dr. Reiner Zilkenat über seine Zeit – ein Lebenslauf

„Dr. Reiner Zilkenat über seine Zeit – ein Lebenslauf“ entstand 2009 im Zeitzeugenprojekt des Zeitgeschichtlichen Archivs unter Leitung von Margit Matthes und entspricht der DVD-Fassung ,die von Harald Wachowitz konzipiert und geschnitten wurde. Sie sollte ursprünglich anlässlich Reiners Beerdigung an die Trauergäste zur Erinnerung verschenkt werden, was wegen der bekannten Kontaktsperren ausfiel.

Eigentümer/Rechteinhaber: Berlin-Brandenburger Bildungswerk e.V.

Lizenz: Creative Commons Namensnennung-Nicht kommerziell-Weitergabe unter gleichen Bedingungen

References

References
1 Peter Brandt/Reiner Zilkenat (Hrsg.): Preußen. Ein Lesebuch, Berlin 1981.
2 Preußen. Zu Sozialgeschichte eines Staates. Eine  Darstellung in Quellen.  Bearbeitet von Peter Brandt unter Mitwirkung von Thomas Hofmann und Reiner Zilkenat.  Preußen. Versuch einer Bilanz,  Band 3, Reinbek bei Hamburg 1981.
3 Reiner Zilkenat: Der Berliner Metallarbeiterstreik 1930 und die Gründung des Einheitsverbandes der Metallarbeiter Berlins (EVMB). Berlin (DDR) 1989.
4 Vgl. Bruno Kuster/Reiner Zilkenat: Hitlerfaschismus geschlagen -die KPD lebt und kämpft, Berlin 1985; Reiner Zilkenat: Zur Einführung: Der Berliner Verkehrsarbeiterstreik und die politische Szenerie am Ende des Jahres 1932, in: Der Berliner Verkehrsarbeiterstreik 1932, Sonderheft 2012, herausgegeben vom Förderkreis Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Berlin 2012.
5 Siehe dazu http://www.fabgab.de/aufsaetzeundbeitraege/fabgab.html , Zugriff am 19. März 2020.
6 Henryk Skrzypczak: Als es „ums Ganze“ ging. Gewerkschaften zwischen Revolution und Kapitulation. 1918–1933. Neuruppin 2014; Rainer Holze/Marga Voigt (Hrsg.): 1945 – Eine „Stunde Null“ in den Köpfen? Zurgeistigen Situation in Deutschland nach der Befreiung vom Faschismus. Neuruppin 2016; Reiner Zilkenat (Hrsg.): „…alle Macht den Räten!“ Die deutsche Revolution 1918/19 und ihre Räte. Neuruppin 2018.
7 Stefan Bollinger und Reiner Zilkenat (Hrsg.): Zweimal Deutschland. Soziale Politik in zwei deutschen Staaten – Herausforderungen, Gemeinsamkeiten, getrennte Wege, Neuruppin 2020.

Nachruf Prof. Dr. Annelies Laschitza

6. Februar 1934 – 10. Dezember 1918

Foto: RLS

Annelies Laschitza bereitete sich vor, im Kreise ihrer Familie und ihrer Kollegen ihren 85. Geburtstag zu begehen. Sie wollte am 9. Januar des kommenden Jahres eine Gedenkveranstaltung anlässlich des 100. Todestages von Rosa Luxemburg mit gestalten – dazu wird es nun nicht mehr kommen. Wie erst diese Woche bekannt wurde, starb die Historikerin bereits am 10. Dezember.


Sie hinterlässt nicht zu schließende Lücken: Sowohl in der Forschung und Edition zu Leben und Werk Rosa Luxemburgs als auch zur Geschichte der deutschen Sozialdemokratie des 19. und beginnenden 20. Jahrhundert hat Laschitza Herausragendes geleistet. Es war ihr glücklicherweise vergönnt, mit dem Erscheinen der Bände sechs und sieben
der Rosa-Luxemburg-Werkausgabe (1993/2017) noch den Abschluss der Herausgabe aller deutschsprachigen Texte dieser weltweit verehrten Revolutionärin zu erleben – eine Aufgabe, der sie sich an der Spitze eines Kollektivs ein halbes Jahrhundert lang gewidmet hat. Um diese große, gegen so manche Widerstände vollbrachte Edition rankt sich eine Fülle begleitender Publikationen – besonders hervorzuheben ihre viel beachtete Rosa-Luxemburg-Biografie („Im Lebensrausch, trotz alledem“, 1996), die biografischen Publikationen über Rosa Luxemburgs Kampfgefährten (u.a. „Die Liebknechts. Karl und Sophie. Politik und Familie“, 2007) sowie die in dem von ihr geleiteten Arbeitskollektiv herausgegebene Edition von Reden und Schriften Karl Liebknechts. Es genügte ihr nicht, Manuskripte bei den Verlagen abzuliefern, sie war unentwegt aktiv, um ihre wissenschaftliche und politische Botschaft sei es mit Lesungen und Vorträgen, sei es als Beraterin für den Rosa Luxemburg-Film von Margarethe von Trotta (1986) unter die Leute zu bringen.

Es war kein leichter Weg, den Annelies Laschitza zurückzulegen hatte. Am 6.Februar 1934 in Leipzig geboren, hatte sie nach Besuch der Volks- und Hauptschule eine Lehre beim Rat der Stadt Leipzig angetreten. Anschließend war sie an verschiedenen Verwaltungsschulen zunächst als Studierende und bald als Lehrende tätig. Hier lernte sie auch ihren Ehemann Horst Laschitza kennen, der sich als Historiker der antifaschistischen Widerstandsbewegung einen Namen machte. Über eine Sonderreifeprüfung gelangte sie an die Leipziger Karl-Marx-Universität, wo sie 1954 bis 1958 Geschichte studierte. Ihre langjährige Arbeitsstätte wurde der Bereich Geschichte der Arbeiterbewegung am Institut für
Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED. Hier promovierte
und habilitierte sie sich. Unter ihrer Leitung wurde Band eins einer geplanten vierbändigen Geschichte der SED verfasst, dessen Rezeption leider im Strudel der „Wende“ unterging. Ihre wissenschaftliche Arbeit war stets verbunden mit ehrenamtlicher gesellschaftlicher Tätigkeit, so als Vizepräsidentin der Historikergesellschaft der DDR.
Annelies Laschitza gehörte zu jenen ostdeutschen Historikern und Historikerinnen, die während des Umbruchs Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre nicht in Panik oder Untätigkeit verfielen. Sie engagierte sich intensiv für eine kritische Bestandaufnahme der DDR Historiografie und für eine Neuprofilierung. Im Umfeld eines von ihr initiierten, unter Beteiligung internationaler Experten durchgeführten Rosa Luxemburg-Kolloquiums gründete sich der bis heute rührige „Förderkreis Archive und Bibliotheken zur Geschichte der Arbeiterbewegung“.
Ein wichtiges Wirkungsfeld wurde für sie die Internationale Rosa Luxemburg-Gesellschaft, deren Tagungen sie mitgeprägt hat. Es gibt wenige Frauen und Männer, die so viel Energie und hinreißenden Optimismus ausstrahlten wie Annelies. Und dies, obwohl sie ihre wissenschaftliche Arbeit als Mutter zweier Kinder zu bewältigen hatte,
obwohl ihr später die Pflege ihres an Parkinson erkrankten Ehegatten oblag.


Wer Rosa Luxemburgs gedenkt, wird sich auch an Annelies Laschitza bleibend erinnern.
Günter Benser
Nachdruck des Artikels „Zum Tod der großen Rosa-Luxemburg-Forscherin Annelies Laschitza“, in: Junge Welt, 19. Dezember 2018, Nr. 295.

Nachruf Heinrich Gemkow

 26. Juni 1928 in Stolp/Pommern; † 15. August 2017 in Berlin

In Heinrich Gemkow haben wir einen hervorragenden Kenner und Interpreten über Werk und Leben von Karl Marx und Friedrich Engels und auch über deren Verwandte und Freunde verloren.

Rolf Hecker, Berlin, Gemeinfrei, via Wikimedia Commons


Als stellvertretender Direktor des Instituts für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, der er ab den 1960er Jahren bis 1990 war, fühlte er sich vor allem für die Marx-Engels-Edition und -Forschung verantwortlich. Zusammen mit den Mitarbeitern der Marx-Engels-Abteilung, des Archivs und der Bibliothek sorgt er umsichtig für das Auffinden wichtiger
Texte und publizierte selbst mit seriösen Einführungen wichtige Dokumente. Er engagierte sich für verständnisvolle und dauerhafte Verbindungen zu internationalen Forschern und Archivaren besonders in der Sowjetunion, in den Niederlanden und in Frankreich. Durch mehrere Publikationen über Marx und Engels setzte er mit großer Menschlichkeit
und hoher literarischer Qualität sehr beachtliche biografische Maßstäbe.


Als junge Mitarbeiterin führte er mich in den Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands ein. Dadurch erweiterte sich mein Wissen über die Kulturpolitik der DDR und deren Akteure aus unterschiedlichen Bevölkerungskreisen. Außerdem erhielt ich Einblick in die Entwicklung von Ortschroniken und in die Anfänge der Regionalgeschichte. Er
selbst gewann durch seine vielseitigen Kenntnisse und Interessen an Kunst und Literatur im Kulturbund sowie in der Pirckheimer-Gesellschaft wertvolle Anregungen und persönliche Kontakte. In diesem Sinne andere Menschen zu begeistern, darin bestand eine seiner großen Stärken. Indem er unter den Einflüssen von Marx und Engels und von weiteren
Persönlichkeiten der Arbeiterbewegung, zum Beispiel von Paul Singer und August Bebel, stets auch die Verbindung von Theorie und Praxis im Auge hatte, setzte er sich für gründliche Kenntnisse über die Entwicklung und Zukunft der Arbeiterbewegung ein.

Er war ein sachkundiger Ratgeber und nachahmenswertes Vorbild für Vermittlung historischer
Kenntnisse und vermochte auf feinsinnige Art Vertrauen und Zuversicht zu wecken. Bis zuletzt meldete er sich mit quellen- und episodenreichen Beiträgen zu Wort. Und er unterzog sich der Mühe, Manuskripte seiner
Freunde kritisch durchzusehen und durch kluge Vorschläge verbessern zu helfen.
Achtungsvoll und stets erfreut verfolgte er neue Forschungs- und Publikationsergebnisse der Historiker aus seinem Freundeskreis, zu dem ich mich über 50 Jahre zählen durfte und bis zuletzt mich seiner freundlichen Zuvorkommenheit erfreute. Den von Eckhard Müller und mir herausgegebenen Band 7/1 und 7/2 der „Gesammelten Werke“ Rosa Luxemburgs, der im März 2017 erschienen ist, hat er herzlich begrüßt.


Annelies Laschitza

Nachruf: Theodor Bergmann

(7.3.1916-12.6.2017)

Am 12. Juni verstarb das älteste Mitglied des Förderkreises Archive und
Bibliotheken, Prof. Dr. Theodor Bergmann, im 102. Lebensjahr. Mit seinem Tod bricht die personelle Verbindung zur Arbeiterbewegung der Weimarer Republik ab, deren letzter Akteur und Zeitzeuge er war.

Theodor Bergmann an seinem 100. Geburtstag, März 2016 CC BY 3.0, Alexander Schlager (RLS)
Theodor Bergmann an seinem 100. Geburtstag, März 2016 CC BY 3.0, Alexander Schlager (RLS)

Geboren am 7. März 1916 in Berlin in der vielköpfigen Familie eines
Rabbiners, kam er 1929 zur kommunistischen Bewegung, aber nicht zur KPD. Stattdessen schloss er sich der Stalin-kritischen KPD-Opposition, der KPO, um Heinrich Brandler und August Thalheimer an. Dieser politischen Entscheidung ist er ein sehr langes Leben treu geblieben.
1933 musste der Siebzehnjährige ins Exil – Palästina, die Tschechoslowakei und Schweden hießen die Stationen. Das Leben war hart und gefahrvoll, zweimal entkam er den Nazihäschern nur sehr knapp. 1946
kehrte er nach Westdeutschland zurück. Ostdeutschland war für ihn keine Alternative. Politisch fand Theo Bergmann in der Gruppe „Arbeiterpolitik“, privat in seiner Genossin Gretel Steinhilber, die ebenfalls aus der KPO kam, seinen Halt.

Sein im Exil aufgenommenes und zwangsweise unterbrochenes Studium der Landwirtschaft schloss er 1947 in Bonn ab, aber an eine wissenschaftliche Laufbahn war noch lange nicht zu denken. Als ungelernter Arbeiter im Metallbetrieb, später unter anderem in der Landwirtschaftskammer Hannover, absolvierte er Promotion und Habilitation ohne größere Unterstützung fast „nebenbei“. Erst 1973 wurde er in Stuttgart-Hohenheim Professor für International vergleichende Agrarpolitik. 1981 trat er in den (Un-)Ruhestand.


Seitdem wurde die Geschichte und Politik der Arbeiterbewegung zu seinem Hauptforschungsfeld. Seine Geschichte der KPO, „Gegen den Strom“, 1987 zuerst und dann in mehreren erweiterten Auflagen erschienen, wurde ein Standardwerk. Er war, zusammen mit seinem Kollegen und Freund Gert Schäfer, Initiator einer Reihe internationaler Konferenzen zur Geschichte und zu aktuellen Problemen der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung. Es begann mit Tagungen über Karl Marx und August Thalheimer 1983 und 1984 im Stuttgarter Raum und endete 2004 mit einer Konferenz der Rosa-Luxemburg-Gesellschaft im chinesischen Guangzhou/Kanton. Dazwischen lagen Konferenzen über Trotzki, Bucharin, Lenin, die russischen Revolutionen, Friedrich Engels. Über sechzig Bücher als Autor und Herausgeber sowie viele Hundert Aufsätze, die auf fünf Kontinenten erschienen, zeugen von Theo Bergmanns Schaffenskraft. Er war ein wahrer sozialistischer Weltbürger:
Theo Bergmann schrieb und dolmetschte in fünf Sprachen, las ein halbes Dutzend weitere. Auf eigene Kosten reiste er vierzehnmal nach China. Noch öfter bereiste er Israel, mehrmals auch Indien, Pakistan und viele weitere Länder.


Es nimmt nicht Wunder, dass die DDR seine Bücher zur Konterbande erklärte. Umso selbstverständlicher war es für ihn, ab 1990 auch solchen „abgewickelten“ DDR-Wissenschaftlern zur Seite zu stehen, die ihn einst als „Revisionisten“ hatten bekämpfen müssen. Er trat der PDS bei, leitete zeitweise ihren Landesverband Baden-Württemberg und
blieb bis zum Lebensende in der politischen Bildungsarbeit in der Partei und darüber hinaus aktiv. Besonders gern sprach er vor Schulklassen, die ihn auch oft einluden, denn ein solches Leben stieß bei den Nachgeborenen auf enormes Interesse. Aus seiner so reichen wissenschaftlichen wie politischen Hinterlassenschaft lässt sich weiterhin viel lernen.


Mario Kessler